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Die Nacht der Nächte: 100 Kilometer Ultramarathon, Biel 2008        
Vier kämpfen sich durch
Der Ultramarathon von Biel wird gerne mit dem Ironman auf Hawaii verglichen. Der Vergleich ist durchaus berechtigt, auch wenn für Biel keine Selektionswettkämpfe erforderlich sind, sind die Anforderungen an die Teilnehmer vergleichbar. Anstelle der großen Hitze von Hawaii hat der Läufer mit der Nacht und dem schwierigen Gelände zu kämpfen. Neben den läuferischen Anforderungen kommen die körperlichen Anstrengungen und psychischen Belastungen dazu.

Hier wie dort gilt, wer ankommt ist Sieger, frei nach dem Motto von Jesse Owens: "Der einzig wahre Sieg, ist der Sieg über sich selbst." Die Leistungen sind außergewöhnlich und können nur mit großem Aufwand an Training, Vorbereitung und an körperlicher und psychischer Härte erreicht werden. Nur wer den Hunderter selber gefinisht hat kennt das überwältigende Gefühl im Ziel.

Dirk und ich fahren schon Donnerstag mittag in die Schweiz, damit wir uns in Ruhe auf den Start vorbereiten können. Quartier bekommen wir bei Hansueli und seiner Frau Bozena in der Nähe von Solothurn. Sie empfangen uns sehr herzlich. Nicht nur die Zimmer, die sie für uns bereithalten sind perfekt, sondern auch das Schweizer Rösti, das seine Frau extra für uns gemacht hat schmeckt vorzüglich. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg nach Biel, um schon mal ganz stressfrei die Startunterlagen zu besorgen und um unseren dritten Mann, Ingo, vom Bahnhof abzuholen.

Am nächsten Morgen kutschiert uns Hansueli auch noch zu markanten Streckenpunkten, damit wir schon mal sehen können, worauf wir uns einlassen. Ein kleiner Mittagsschlaf nach dem Essen sorgt dann für unser inneres Gleichgewicht.

Freitagabend, 13. Juni
Dirk, Ingo und ich stehen mit 2.500 anderen Läufern auf einem großen Feld und warten auf den Startschuss, der um Punkt 22:00 Uhr abgefeuert werden soll. Unsere Anspannung steigt ins Unerträgliche. Eigentlich ohne Grund, schießlich haben wir uns sehr sorgfältig auf diesen Lauf vorbereitet. Über 60 Wettkämpfe stecken 2008 schon in unseren Beinen, angefangen vom Crosslauf bis zum Marathon. Aber das erste Mal die 100 Kilometer, das ist halt schon was Besonderes. Nicht nur für uns, auch für Hansueli unseren Gastgeber ist es eine Premiere. Ein lang gehegter Traum erfüllt sich.



Endlich, der erlösende Knall. Viele rennen los, als gilt es einen 100-Meter-Lauf zugewinnen. Jetzt gilt es cool zu bleiben. Wir haben uns vorgenommen, es locker anzugehen, um nicht auf der zweiten Hälfte einzubrechen. Dirk und ich laufen die ersten Kilometer im knappen 5er Schnitt. Viele ziehen an uns vorbei. Sollen sie nur. Der erste Anstieg kommt am Ortsausgang von Biel. Ingo und Hansueli haben zu uns aufgeschlossen. Nach 10 Kilometern in der stockdunklen Nacht geht es über Felder und ich äußere die ersten Zweifel: "Ob das wirklich durchstehe?" Wir haben erst 10 Kilomter und 90 sind noch zu laufen. Dirk beruhigt mich und sagt: "Keine Angst, das schaffen wir locker." In Aarberg laufen wir über den historischen Marktplatz und über eine alte überdachte Holzbrücke. Die Zuschauer stehen Spalier und durch das Licht weicht die anfängliche Skepsis der puren Lauffreude. An der Verpflegungsstelle nehmen wir etwas zu uns. Es werden neben Müsli- und Energieriegeln, auch Obst, Iso-Geränke, Cola, Tee, Wasser, Brot und Bouillon angeboten. Dann verschwinden wir wieder in die Dunkelheit.

In Lyss warten mehrere hundert Radfahrer, die als Begleiter den Läufern zur Seite zu stehen. Hinter dem Ort zieht sich eine endlose Lichterkette durch die dunkle Nacht. Das hat etwas. Wir sind tief beeindruckt.



Kilometer 35: Hansueli bekommt Probleme. Sein Pulsmesser zeigt permanent über 170 Schläge pro Minute, das ist eindeutig zuviel. Er lässt sich zurückfallen und wünscht uns alles Gute. Dirk, Ingo und ich laufen nun einen Schnitt von 5:20 bis 5:30 Minuten pro Kilometer. Bei Kilometer 42,2 - der klassischen Marathondistanz – fallen auch meine beiden Mitstreiter deutlich zurück.

Viele Läufer bekommen Probleme, seit Kilometer 30 ist das vertärkt optisch und akustisch wahrnehmbar und nicht mehr zu übersehen. Liegt es an falscher Ernährung? Etwas später schaue ich auf die Uhr, die exakt vier Stunden und 47 Minuten für die erste Hälfte der Distanz anzeigt. Zu Ingo und Dirk habe ich zu diesem Zeitpunkt schon den Sichtkontakt verloren. In Kirchberg, bei Kilometer 55, gibt es die Möglichkeit, Kleidung und Verpflegung zu deponieren. Nach kurzem Suchen entdecke ich meine Tüte und nehme Schokoriegel und ein Cola mit auf den Weg. Für den nun folgenden Streckenabschnitt ziehe ich eine Stirnlampe auf. Diese Aktion hat zirka zwei Minuten gedauert und ich ordne mich wieder hinter Dirk und Ingo ein.

Ich frage sie nach ihrem Befinden und erfahre, dass sie nun Tempo rausnehmen wollen. Mir geht es nach der Schokolade richtig gut und ich verabschiede mich mit großen Schritten in Richtung des berüchtigten "Ho Chi Minh–Pfades", der den Streckenabschnitt entlang des Flusses Emme beschreibt. Schmal und gespickt mit Wurzeln fordert der schmale Weg die volle Konzentration. Lauftechnisch bedeutet das eine weitere Herausforderung für meine ohnehin schon geschundenen Füße. 6,5 Kilometer zieht sich der Trail durchs Unterholz.

Ab Gerlafingen wird es dann langsam hell und die Vögel beginnen zu zwitschern. Bei mir setzt das die letzten schlummernden Kräfte frei, denn ich weiß, dass ich den schwierigsten Teil der Strecke überwunden habe. In Lüterkofen sehe ich einen Bekannten. Schnell reiße ich mir die Stirnlampe vom Kopf und werfe sie ihm zu. Den Showdown möchte ich ohne überflüssigen Ballast erleben.

Doch wenig später bekomme ich Probleme mit meinem Magen. Ich laufe nun mit zwei anderen Läufern, die mein Tempo von 5:20 Minuten pro Kilometer gehen. In Bibern dann der letzte heftige Anstieg. Ich gehe zügig und in großen Schritten hoch um Kraft zu sparen. Die Magenschmerzen werden immer stärker und ich verschwinde kurz im Wald. Gleich geht es mir viel besser und die lange Bergabpassage laufe ich wie entfesselt.

Ab Kilometer 85 fahren permanent Kameramotorräder um mich herum. Was das wohl zu bedeuten hat? Vor mir glaube ich eine mollige Frau mit einem langen roten Zopf zu erkennen. Ich brülle: "aus dem Weg", und überhole links. Schon springt das Dickerchen zur Seite. Als ich ihr kurz ins Gesicht blicke, erkenne ich Joey Kelly, den Ultrasportler von der Kelly Family. Verbissen versucht er dranzubleiben. Der Gedanke, als Statist für Joey Kelly in einer Reportage aufzutauchen, gibt mir nochmal einen Schub.



So geht es bis nach Biel. Die letzten fünf Kilometer sind alle einzeln ausgeschildert und der 99. Kilometer ist nur noch Wolke Sieben, Adrenalin pur. Auf der Zielgerade renne ich fast noch einen anderen Läufer samt Fahrradbegleitung über den Haufen. Nach neun Stunden und 24 Minuten gehe ich über die Zielline. Das Knie schmerzt und die Achillessehnen sind geschwollen. Das ist mir jetzt alles egal, habe ich doch den vereinsinternen Streckenrekord um 12 Minuten verbessert. Meine Vereinskollegen Ingo und Dirk kommen gemeinsam nach 9:47 h ins Ziel, Hansueli schafft es in tollen 10:35 h. Auch wenn wir bei unserem abschließenden Pizzeriabesuch rückwärts die Treppenstufen runterkriechen. Biel war es wert.

Text und Fotos: Timo Rokitta und Dirk Karl