Für Europäer, die diesen Verkehr nicht gewohnt sind, hat diese gelebte Unruhe etwas Faszinierendes und vermittelt einen ersten Eindruck davon, wie lebendig und gleichzeitig gelassen man hierzulande ist. Eine erste Mutprobe für Reisende ist es immer, eine Straße zu überqueren. Auf Grün an einer Ampel zu warten führt zu nichts, man könnte den ganzen Tag damit zubringen. Langsam und kontinuierlich im Angesicht der stets um einen herumsausenden Roller weiterzugehen ohne Hektik, das ist das richtige Vorgehen. Hektik führt zu Unfällen, weil sich die Roller-Fahrer nicht auf den Straßenüberquerer einstellen können. Da habe ich gleich etwas am ersten Tag gelernt, was mir den Aufenthalt in der Stadt erleichtert.
Viel hat diese größte Stadt Vietnams nördlich des Mekongdeltas erlebt, deren innerer Kern heute noch immer Saigon heißt. Ho Chi Minh Stadt, benannt nach dem großen vietnamesischen Revolutionär und späterem Präsidenten des vereinigten Vietnams, war bis 1975 zum Ende der Republik Vietnam Hauptstadt und Sitz der hier ansässigen Regierung des geteilten Vietnams. Erst nach 1975, nachdem der "Amerikakrieg", den man im Westen als Vietnamkrieg kennt, vorüber und die Stadt und das nun vereinigte Land Vietnam zur Ruhe kam, erhielt Saigon 1976 seinen neuen Namen Ho Chi Minh Stadt.
So schaue ich mir auch zuerst die jüngste Vergangenheit der Stadt an, die untrennbar mit dem Krieg der Amerikaner gegen das Land verbunden ist. Der "Wiedervereinigungs-Palast", früher das Weiße Haus und Sitz des letzten Präsidenten Duong Van Minh, veranschaulicht mir eindrucksvoll das Leben und Wirken der letzten Tage in der Südvietnamischen Republik. Erbaut 1873 von den einstigen, französischen Kolonialherren und nach Abriss wiedererrichtet 1962, zeigt es eine für die 60er Jahre typische Architektur und Inneneinrichtung.
Geschichtsbewusst beobachte ich auf dem Dach des Palastes die zweit rot umrandeten Felder, die jene Stellen markieren, an denen der Pilot der südvietnamesischen Luftwaffe Nguyen Thanh Trung am 8. April 1975 zwei Bomben abwarf und sich damit auf die Seite der kommunistischen Truppen Nordvietnams stellte. Im Garten des Anwesens sind noch heute die zwei nordvietnamesischen Panzer zu besichtigen, die am 30. April 1975 um 10:45 Uhr die Tore des Palastes durchbrachen und das Ende des Vietnamkriegs markierten. Auch das "Kriegsmuseum" unweit des Palastes verdeutlicht mir als jungem Menschen, der die Geschehnisse des Vietnamkriegs nicht miterlebt hat eindrucksvoll auf zwei Etagen voller Relikte, Bilder und Filmaufzeichnungen, die Schrecken jener Tage, von denen heute hier in der Stadt glücklicherweise nichts mehr zu spüren und zu sehen ist.
Diese Stadt schläft nie und seine 7,1 Millionen Einwohner sind zu jeder Tages- und Nachtzeit unterwegs. Ich unternehme in den Nachmittagsstunden einen Spaziergang durch den Distrikt 1, das ist der Kern von Ho Chi Minh Stadt, der heute noch Saigon heißt. Am Ufer des Saigonflusses blicke ich den kleinen Booten und großen Schiffen hinterher, die sich hier ihr Stelldichein geben. Vorbei geht's an der überdimensional mächtigen Statue des vietnamesischen Generals Trân Hung Dao, der im 13. Jahrhundert die Mongolen besiegte und zum größten Nationalhelden des Landes avancierte.
Ich spaziere auf der Dong Khoi, der ehemaligen Rue Catinat, der alten Prachtstraße Saigons auf der schon die französischen Kolonialherren Präsenz zeigten. Allgegenwärtig ist hier die französische Architektur. Teure Designerläden, Bars und luxuriöse Hotels säumen die Straße, auf der ich zunächst zum pompösen Opernhaus gelange. Schräg gegenüber der Oper besuche ich das berühmte Hotel Caravelle, in dem während des Krieges westliche Berichterstatter lebten, darunter auch der legendäre und erst kürzlich verstorbene Peter Scholl-Latour, der stets von der Dach-Bar des Hotels den traumhaften Blick über Saigon genossen haben soll, hinüber zur Kathedrale Notre Dame und zur 1908 erbauten Hauptpost, dem ehemaligen Hotel de Ville, am Nguyen Hue Boulevard.
Natürlich lasse ich mir den legendären Ben Than Markt, ein Muss für jeden Touristen, nicht entgehen. Diese 1914 erbauten Markthallen mit einem markanten Glockenturm bieten heute vor allem Shopping-hungrigen Reisenden auf einem Quadratkilometer Souvenirs und Plagiate von Produkten aller Art sind dort zu finden, wer richtig hinschaut, findet aber auch Erstaunliches, Typisches, Einheimisches. Gewürze, getrockneter Fisch, Obst und Gemüse, das in Europa nicht zu finden ist, vietnamesische Speisen und Handwerkskunst sind es, die hier feilgeboten werden und mich faszinieren. Allgegenwärtig ist der vietnamesische Kegelhut, der in allen Größen und Dekorationsvarianten erhältlich ist. Auch lachende Buddhamasken aus Holz oder Figürchen aus Stein sind landestypische Dinge, die das Herz erfreuen.
Außerhalb des Marktes beherrschen Straßenhändler das Bild. Mit kleinen Töpfen ausgestattet, hocken sie auf den Bürgersteigen, bieten Waffeln, Kokosnuss-Getränke oder kleine Speisen an, die direkt vor Ort zubereitet werden. Der Vietnamese hockt gerne, diese Form des Sitzens empfindet er als bequem und kann in dieser Stellung stundenlang verharren. Es dampft und riecht nach Gewürzen, die der europäischen Nase fremd sind.
Ich frage An Pham Thien, die als Einheimische aus Ho Chi Minh City heute meine Stadtführerin ist, was denn da so köchelt. Die Namen der Speisen erscheinen mir noch undurchsichtiger als das Gekochte an sich. Im Wesentlichen kommen Hühnchen, Rind oder Schwein mit Mundgo-Bohnen, Nudeln, Sojasprotten in das Gericht. Ein Tabu gibt es in Vietnam nicht, sodass auch andere Fleischsorten zu finden sind, die für Europäer eher abstoßend wirken. Ein Gericht beinhaltet immer Reis, auch Nudeln werden aus Reis hergestellt und gehören zu jeder Speise als Beilage dazu. Die südvietnamesische Küche weißt starke Einflüsse von Thai, Khmer und indischer Küche auf. Im Norden sind eher chinesische Einflüsse zu entdecken. Es ist nichts so heiß, wie es gekocht wird – das passt in Vietnam tatsächlich, denn fast alles wird im Sud gegart und dann mundgerecht in einer Schale serviert. Nur mir als Europäer fällt etwas die Übung, die Speisen mit den Essstäbchen zu mir zu nehmen.
Wie gut, wenn man einen Einheimischen kennt, der einem Reisenden wie mir auch das Nachtleben der Stadt zeigen kann, das jenseits der touristischen Angebote liegt, denke ich mir und verlasse mich bei der Wahl der coolsten Bar heute auf meine Begleitung An Pham. Ein unscheinbares Haus, in dem niemand eine Bar vermuten würde, ist heute mein Ziel. Auf dem Dach liegt die Broma-Bar, eine Dachterrasse mit Blick über die Stadt, gleich neben dem markanten Bitexco Financial Tower, dem 262 Meter höchsten Gebäude der Stadt.
Live-Jazz und eine skurrile Atmosphäre erwarten mich. Einige ausländische Gäste – wahrscheinlich wie ich auch in Begleitung – haben den Weg doch hierher gefunden. Solche Bars in Hinterhöfen, Wohnhäusern und an Ecken, an denen kaum kein Tourist vorbeikommt, sind es, die das versteckte Flair der Stadt ausmachen. Unten auf der Straße toben noch immer Horden von Motorrollern durch die Stadt, Nachtruhe ist hier unbekannt und das ist gut so, denke ich mir, den Saigon lebt, atmet, bewegt sich und steht niemals still – Saigon vibriert.
Fast etwas wehmütig, aber auch voller Spannung verlasse ich Ho Chi Minh City und begebe mich in einem einstündigen Flug in das in der Mitte des Landes gelegene Da Nang. Die Großstadt in Zentralvietnam, einst von den französischen Kolonialherren als Ort "Tourane" gegründet, liegt am Delta des Flusses Han. Die Stadt verfügt über einen Naturhafen, der Da Nang einst zu einem wichtigen Handelspunkt am Pazifischen Ozean machte. Begeistert bin ich von den traumhaften Stränden in Da Nang entlang des seichten, chinesischen Meers mit seinem badewannen-warmen Wasser. Ein Erholungsort der besonderen Art, der Reisende anzieht und zu einem ausgedehnten Badeurlaub einlädt.
Hier ist alles auf Touristen eingerichtet. Große Ressorts bekannter Hotelketten bieten luxuriöse Zimmer oder Bungalows. Das ist nicht Vietnam, das ist global. Wer das Leben der Vietnamesen hier kennenlernen will, muss danach suchen, denn alles ist auf Reisende ausgerichtet. Ein paar historische Dinge gibt es aber doch zu sehen. So sind die Marmorberge mit ihrer buddhistischen und hinduistischen Tempelanlage und der atemberaubende Grotte "Huyen Khong", die einen buddhistischen Altar und zahlreiche Figuren beinhaltet, auf jeden Fall einen Besuch wert.
Atemberaubend ist aber auch der Aufstieg. Denn bei den durchschnittlich 36 Grad feuchtwarmer Luft ist es nicht ganz einfach, die nur 100 Meter hohen Berge zu erklimmen. Immerhin hilft ein Fahrstuhl, die ersten Meter zu überwinden, bevor man sich über Stock und Stein und 156 Stufen zu den Grotten quält, um mit einem atemberaubenden Ausblick über die Region und einer faszinierenden Innenansicht der Höhlen belohnt zu werden.
So touristisch friedvoll war es hier nicht immer. Vor mehr als 40 Jahren befand sich die Grenze zwischen dem kommunistischen Norden und dem amerikanisierten Süden in der Nähe, die US-Truppen unterhielten einen Flugplatz unterhalb der Berge und sonnten sich in ihrer Freizeit am kilometerlangen Sandstrand, den sie China Beach nannten. Sie ahnten nicht, dass vor ihren Augen die Mitglieder der Vietcong in der Höhle eines der Felsen ein Lazarett unterhielten – und von dort schon mal Flugzeuge des Feindes abschossen. Von dieser schrecklichen Zeit des Vietnamkriegs ist heute nur Folklore übrig.
Touristisch geht es auch auf den Ba Na Hills zu. Früher wegen der großen Population an Affen als "Affenberg" bezeichnet, befindet sich heute auf der Spitze der Park "Le Jadin d´Amour" sowie ein Weinkeller und man kann das französische Flair deutlich spüren. Denn die Bà Nà Hills wurden bereits Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts durch die französische Kolonialmacht zu einem Erholungsort ausgebaut, da das Klima trockener und durchschnittlich 10 °C kühler ist als in Da Nang. Seit 1945 verfielen die Einrichtungen jedoch und gerieten in Vergessenheit. Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach 1990 wurden auch die Bà Nà Hills wieder belebt.
Die Hauptattrakation der auf 1487 Metern gelegenen Bà Nà Hills ist eigentlich die Fahrt dort hinauf. Die längste Seilbahn der Welt, die über 5771 Meter lang ist und mit der man 20 Minuten unterwegs ist, bietet von den Kabinen aus einen atemberaubenden Blick über den dichten Dschungel. Man schwebt über Berge und Hügel mit Wasserfällen und sieht eine einzigartigen Fauna und Flora. Erst 2009 eröffnete die Seilbahn und erfreut sich hoher Beliebtheit. Sie ist in zwei Sektionen geteilt. So hat man bei der Auffahrt eine andere Aussicht, als bei der Abfahrt. Oben angekommen, ist es merklich kühler als im Tal, aber der Berg ist nicht selten wolkenverhangen, so dass der Blick ins Tal oft nicht möglich ist. Die Zahnradbahn für die letzte Etappe bis hinauf zur Plattform wurde erst 2014 eröffnet. Und wem es nicht reicht, der kann noch ein Stück höher fahren, wieder mit einer Seilbahn, um zu einer kitschigen Fantasy-Welt zu gelangen, die an Plastik nicht spart und vor Künstlichkeit nur so ächzt. Immerhin kann man hier oben eine überdimensionale Buddha-Statue mit einem Tempel besichtigen, der recht eindrucksvoll gestaltet ist.
Noch mehr Kitsch, aber besonders bei der einheimischen Bevölkerung beliebt gibt es auf der Drachenbrücke von Da Nang zu erleben. Die Brücke hat die Form eines Drachen, der sich im Dunklen verfärbt und täglich um 21 Uhr Feuer spuckt. Ein eindrucksvolles Lichtspektakel, dass auch ich mir nicht entgehen lasse.
Und dann ist da noch Hoi An am südchinesischen Meer. Ein Touristenort 30 Kilometer südlich von Da Nang. Das im 4. Jahrhundert gegründete Hoi An war einst der größte Hafen in Südostasien und gilt als ein Hafen der Seidenstraße. Hier ist vor allem der Zentralmarkt, die Altstadt und die japanische Brücke sehenswert. Die Altstadt gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. In den Abendstunden leuchten zahlreichen Lampions, die überall aufgehängt sind und erzeugen eine fantastisch-romantische Stimmung. Wenn dann die kleinen erleuchteten Schiffe auf dem Sông Thu Bôn schaukeln und kleine Laternen auf dem Wasser ausgesetzt werden, dann ist das ein
erhebendes Erlebnis. Dieses Laternenfest findet an jedem Vorabend einer Vollmondnacht statt.
Eine Stippvisite in Vietnam kann recht eindrucksvoll sein. Besonders, wenn man zu Zeit der Ernte kommt im September und bei einer Fahrt über das Land das Landleben beobachtet. Die Reisernte funktioniert noch wie anno dazumal ohne Maschinen. Männer und Frauen mit Kegelhüten stehen in den Feldern, Reis wird an der Straße zum Trocknen ausgebreitet, Frauen tragen Körbe, die mit einem Stab über dem Nacken verbunden sind, es scheint, man wäre am Straßenrand in eine andere Zeit 100 Jahre zurück versetzt.
Anmutend prägen sich diese Bilder bei mir ein. Und während ich zurückdenke an die Woche meiner Reise durch Vietnam, lasse ich die lebendige Ho Chi Minh-Stadt Revue passieren, die allerorts freundlichen, nie lauten und selten hektischen Menschen mit ihrem herzlichen Charakter. Das völlig konträre, aber nicht weniger eindrucksvolle Landleben rund um Da Nang und die ungewöhnliche, aber schmackhafte, vietnamesische Küche, die so ganz anders ist als im Westen und doch viele Einflüsse aufgenommen hat. Ich denke zurück an die Menschen, die ich hier traf, deren Gastfreundlichkeit und Offenherzigkeit. Die wechselvolle Geschichte des Landes und der Wille der Bevölkerung, voranzukommen, sich zu öffnen, nach vorn zu blicken. Und dabei gäbe es noch so viel mehr zu erleben. Vietnam ist kein Ort des Massentourismus. Es ist ein Ziel für all diejenigen, die sich einlassen wollen auf neue, fremde, spannende und abwechslungsreiche Eindrücke, auf Unentdecktes, Lebendiges, Pulsierendes. Vietnam vibriert. Da ist noch viel drin und viel dran, was ich erleben kann, denke ich bei mir, bevor ich das Land für dieses Mal verlasse und "tam biêt" sage.
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